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Foto: epd-bild/Birgit Koch

Von Hanna Rucks

Eine Hirtin ist zu Fuß mitten in ihrer Herde unterwegs. Mit einem Stock in der Hand und einem Hund an der Seite zieht sie bedächtig ihres Weges. Die heiße Mittagssonne scheint ihr nichts anhaben zu können. Ihr Blick wandert vom einen Ende der Herde zum anderen. Geht es allen Schafen gut? Bleiben sie schön zusammen? Dann wandern ihre Gedanken zum Abend: Wo wird sie wohl einen guten Ruheplatz für die Herde finden?

Liebe Mitglieder des Kirchenvorstandes: Jeder und jede von uns ist so eine Hirtin. Denn in 1. Petr. 5,1-2 heißt es über die „Ältesten“ der Gemeinde, d.h. über die Kirchenvorsteher/innen: „Die Ältesten unter euch ermahne ich (…): Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist…“1  Was das Neue Testament hier sagt, kennt die jüdisch-rabbinische Tradition ebenfalls. Auch im Judentum gilt: Ehrenamtliche in Leitungsaufgaben werden als „Hirten“ bezeichnet.2

Im Berg von Bauprojekten, Finanzen oder Planungsdetails mag das manches Mal in Vergessenheit geraten. Aber Gott hat uns diese Rolle zugedacht. Wir sind als Hirtinnen und Hirten mitten in unserer Herde und mit unserer Herde, der Kirchengemeinde, unterwegs.

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Foto: epd-bild/Birgit Koch

Die Hirtin bleibt stehen. Man sieht ihr an, dass sie überlegt. Wohin soll sie sich wenden? Der Weg durch den Wald wäre ihr lieber, im Schatten der Bäume ließe sich die Hitze besser ertragen. Aber für die Schafe ist der Weg durch den Wald schwer: An den Dornen des Unterholzes wird sich so manches Tier verletzen. Über das offene Feld zu ziehen, wäre für die Tiere besser. Die Hirtin weiß: Ihre Aufgabe ist es, zuerst an das Wohl der Tiere zu denken.

So lehren es auch die rabbinische Tradition und das Neue Testament. Ein rechter Hirte in einer Gemeinde schlägt aus seinem Amt keinen materiellen oder finanziellen Gewinn. Eine rechte Hirtin schwächt oder unterdrückt andere Gemeindeglieder nicht.3  Nicht unser eigenes Wohl in der Kirchengemeinde, sondern das ihrer verschiedenen Mitglieder steht an erster Stelle. Das ist eine unserer Hirtenpflichten.

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Foto: epd-bild/Birgit Koch

Lautes Blöken lässt unsere Hirtin zusammenfahren. Suchend schaut sie sich um. Ganz hinten in der Herde haben sich zwei Schafe in die Wolle gekriegt. Jetzt ist sie gefordert. Sie muss eingreifen, damit keines der Tiere Verletzungen erleidet.

So lehrt es auch die jüdische Tradition. Hirten haben eine Verantwortung dafür, dass sich die Schafe nichts Schlimmes antun. Vom jüdischen Bibelausleger Raschi hören wir: Es seien schlechte Hirten, die in einer solchen Situation nicht eingreifen. Ein guter Hirte hindert die Schafe daran, übel miteinander umzugehen. Ein guter Hirte setzt Grenzen, wo es nötig ist.4 
 
Da sind zum Beispiel zwei Ehrenamtliche, die in der Jugendarbeit verschiedene Projekte leiten. Beide machen ihre Arbeit gut, aber sie mögen sich gegenseitig nicht. Sie verstehen sich als Konkurrenten. Sie haben Angst, der andere könnte ihnen ihren Platz streitig machen. Die Folge: Jeder versucht die Projekte des anderen zu boykottieren, dem anderen in Raum- und Geldfragen den Rang abzulaufen.

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Foto: epd-bild/Birgit Koch

Hirtin oder Hirte sein: Das bedeutet auch, in einer solchen Situation einzugreifen. Es ist Hirtenaufgabe, darauf hinzuwirken, dass die Gemeindeglieder recht miteinander umgehen. Einer Kirchengemeinde auf diese Weise Vorbild zu sein, ihr Weisung zu geben, ist eine große Herausforderung. Doch schrecken wir davor nicht zurück: Lassen wir uns von dem jüdischen Bibelausleger Raschi dazu ermutigen!

Zusätzliches Material:
Als Gebet oder Lesung könnte in der Andacht auch Psalm 23 Verwendung finden: Gott ist uns als Hirte Vorbild. Insbesondere Psalm 23,3 passt zur Aussage dieser Andacht.

1  1. Petr. 5,1-2, übersetzt aus: Barbara Aland/Kurt Aland, Das Neue Testament Griechisch und Deutsch, 27. Auflage, Stuttgart 1986.

2  So schreibt der große jüdische Ausleger Raschi über die in Hesekiel 34,2 genannten „Hirten Israels“: Damit seien die „Führungskräfte“ Israels gemeint. Das von ihm verwendete Wort schließt ausdrücklich auch nicht-rabbinische Leitungskräfte ein. Vgl. den Raschikommentar zum Buch Hesekiel in Bar Ilan's Judaic Library, Version 14. Classic Library, New York o.J.

3  Vgl. Raschis Kommentare zu Hesekiel 34,2.4. Vgl. auch 1. Petr. 5,2-3.

4 Wörtlich schreibt Raschi über die irrenden Schafe in Hesekiel 34,6: „Sie wurden zu jemandem gemacht, der frei ist, einem anderen anzutun, was er will, und ihr habt sie nicht getadelt und habt nicht gerichtet zwischen dem einen und dem anderen.“ Raschis Kommentar zu Hesekiel 34,6, übersetzt aus Bar Ilan's Judaic Library, Version 14. Classic Library, New York

Überblick

Zielgruppe: Kirchenvorstand

Alternative Zielgruppen: Alle Mitarbeitenden der Gemeinde, die leitende Aufgaben übernehmen

Einsatzgebiet: Kirchenvorstandssitzung, Treffen von bzw. Ausbildungs- oder Weiterbildungsveranstaltungen für Gemeindeglieder in leitenden Funktionen

Zeitumfang: ca. 3 Minuten

Material: Keines

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Foto: epd-bild/Birgit Koch

Die Autorin

Dr. phil. Hanna Rucks ist Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannover in Harpstedt.
(Stand: 2016)

Weiterführende Literatur

  • Bar Ilan's Judaic Library, Version 14. Classic Library, New York o.J.
  • Barbara Aland, Kurt Aland, Das Neue Testament Griechisch und Deutsch, 27. Auflage, Stuttgart 1986.
  • Marcus Jastrow, Sefer Milim. Dictionary oft he Targumim, Talmud Babli Yerushalmi and Midrashic Literature, New York 1996