Die Juden waren's
Antijudaismus im Neuen Testament
Von Matthias Hopf
Antijudaismus im Neuen Testament
Von Matthias Hopf
Im Neuen Testament findet sich verschiedentlich antijüdische Polemik. Wie ist mit solchen Stellen umzugehen? Damit beschäftigt sich dieser Abend - evtl. im Rahmen eines Gemeindeabend-Zyklus; vgl. die anderen beiden Beiträge des Autors in dieser Arbeitshilfe:
Dauer | Methode und Inhalt | Material etc. |
5 Min. | ggf. Ankommensrunde mit kurzer Vorstellung | |
5 Min. | Einstiegsimpuls: Gemeinsames Lesen von zwei Texten:
| Kopiervorlage |
20 Min. | Plenumsrunde:
| |
10 Min. | Gruppenarbeit (2 Gruppen): Gruppen bereiten sich auf das Rollenspiel vor | Gruppen-Charakterisierungen, Schmierzettel, Stifte |
5 Min. | Rollenspiel im Plenum: Die Gruppen spielen die Abgrenzung zweier sich geistig sehr verwandter Gruppierungen nach. | Gruppen-Charakterisierungen, Schmierzettel, Stifte |
10 Min. | Plenumsgespräch 1: Auswertung und Reflexion des Rollenspiels | |
10 Min. | Kurzreferat: Erläuterung der Herkunft von Antijudaismen im Neuen Testament | |
25 Min. | Plenumsgespräch 2: Austausch über die Frage: Welche Rolle spielen Juden für unseren Glauben, wenn wir die alten Klischees hinter uns lassen wollen? Dabei: Kontrastierung von Matthäus 27,24-25 mit Römer 11,26.29 |
Erläuterung
Einstiegsimpuls
Als Einstieg werden zwei Texte als Handout ausgegeben und gemeinsam gelesen. Der erste Text ist ein kurzer Auszug aus einer antijüdischen Rede des berüchtigten Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker aus dem Jahr 1883.¹ Als Quellenangabe genügt es zu sagen, dass der Text dem protestantischen Mainstream des 19. Jh. entstammt.
Der zweite Text ist Teil der Passionsgeschichte im Matthäusevangelium.
Plenumsrunde
In einer Reaktionsrunde dürfte schnell klar werden, wie die gedanklichen Linien von Mt 27 zu Adolf Stoecker laufen. Nun kann auch die Herkunft des Textes offengelegt werden (ggf. inkl. historischen Informationen zu Adolf Stoecker).² Der daraus resultierende (und möglicherweise schockierende) Aha-Effekt angesichts des Rassismus im Herzen des Protestantismus des 19. Jhs. soll ein weiterführendes Nachdenken über Antijudaismen in der Kirche anstoßen.
Um dieser Spur weiter zu folgen, soll in einem zweiten Schritt der Blick auf antijüdische Stellen im NT insgesamt geweitet werden. Die meisten Teilnehmenden werden vermutlich bereits selbst auf solche Stellen gestoßen sein. Entsprechende Erfahrungen der Teilnehmenden (bspw. in Gesprächskreisen oder Gottesdiensten) sollen nun ausgetauscht werden. Es dürfte deutlich werden, wie weit solche Antijudaismen verbreitet sind, selbst wenn sie nur unbewusst reproduziert werden.
Dieses Brainstorming kann ggf. auf Klischees vom Judentum insgesamt ausgeweitet werden – ob negative (z. B. „geizig“ und „hinterlistig“) oder positive (z. B. „gewitzt“ und „intelligent“). Auch hier dürfte klar werden, wie tief solche Vorurteile verwurzelt sind – auch unter den Teilnehmenden!
Abhängig von der Gruppenatmosphäre sollten die Vorurteile und Klischees noch gemeinsam reflektiert und richtig gestellt werden.
Gruppenarbeit, Rollenspiel, Plenumsgespräch 1
Im nächsten Schritt soll den Ursprüngen der ntl. Antijudaismen nachgegangen werden. Hintergrund jener Polemik ist ja die enorm große theologische Nähe zwischen Jesusbewegung und pharisäischem Judentum (vgl. dazu auch die Informationen zum Kurzreferat). Die vielfältige geistige Verwandtschaft machte die scharfe Abgrenzung erst notwendig. Dieses Phänomen von Nähe und Abgrenzung soll in einem Gruppenrollenspiel nachempfunden werden.
Das Plenum wird dazu in zwei etwa gleich große Teilgruppen eingeteilt. Den beiden Gruppen werden Informationen zu ihrer eigenen und der konkurrierenden Gruppe ausgeteilt. In einer Gruppenarbeit bereiten sich die Teilgruppen auf die Konfrontation mit ihren Konkurrenten vor. Die Teilnehmenden sollen anhand der vorliegenden Daten polemische Argumente gegen die andere Gruppe finden. Die Informationen können dabei gerne auch verdreht oder karikiert werden.
Für die Diskussion im Rollenspiel kann es sinnvoll sein, Wortführer/innen zu bestimmen. Dennoch sollten alle dazu ermutigt werden, sich einzubringen. Das konfrontative Rollenspiel wird erleichtert, wenn sich die beiden Gruppen frontal gegenüber positionieren. Anfang und Ende des Rollenspiels sollten klar markiert werden.
In der Auswertung sollte nach einer Sammlung erster Eindrücke der Fokus darauf gelegt werden, wie die Ambivalenz von Nähe und Abgrenzung erlebt wurde. Bei einem guten Rollenspiel dürfte gerade diese Ambivalenz zu entsprechend schärferen Verzerrungen und Karikaturen der anderen Gruppe führen. Dies gilt es, im Gespräch herauszuarbeiten.
Kurzreferat
Die Erfahrung aus dem Rollenspiel soll unterfüttert werden durch einige Informationen zum Nähe-Distanz-Verhältnis von „Christentum“ und „Judentum“ im 1. Jh. n. Chr.
So wie heute auch, gab es in der Antike nicht das eine Judentum. Vielmehr setzte es sich aus verschiedenen, z. T. konkurrierenden Gruppierungen zusammen, von denen wir aber bisweilen nur wenig wissen. Mindestens drei sind uns näher bekannt:³
Auch die Jesus-Bewegung (so der heute übliche Name für das „Urchristentum“) war eine solche Gruppierung innerhalb des Judentums und dementsprechend nur eine von vielen. Diese Vielfalt wurde durch den so genannten „common judaism“ zusammengehalten, also gemeinsame jüdische Werte wie z. B. den Monotheismus oder die Grundlage der ethischen und kultischen Gebote.4 Die Jesus-Bewegung brachte sich mit ihren Ideen in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs im Judentum ein. Jesus und seine Anhänger übten in dieser innerjüdischen Diskussion Kritik an verschiedenen Formen der Lebensäußerungen der anderen Gruppierungen (vgl. Rollenspiel). In ihrem Selbstverständnis werden sich die Anhänger der Jesus-Bewegung aber ausdrücklich als Juden verstanden haben. Wollte sich ein Nicht-Jude zu Jesus bekennen, musste er also Jude werden – „mit allem drum und dran“. Das änderte sich erst mit Paulus. Er war der Meinung, dass Heiden nicht erst Juden werden mussten, um sich zu Jesus zu bekennen. Dies brachte erhebliche Konflikte mit anderen Anhängern der Jesusbewegung mit sich (vgl. den sog. „Apostelkonvent“ nach Apg 15 und Gal 2). Für letztere waren die Speisegebote und die Beschneidung unaufgebbarer Bestandteil der Identität. Im Rückblick aber hat sich Paulus offensichtlich durchgesetzt. Erst seit Paulus kann man also überhaupt erst ansatzweise von „Christen“ sprechen (und sicher noch in sehr deutlichen Anführungszeichen!) und nicht mehr nur von Jesus-gläubigen Juden.
Die Erleichterungen des Paulus fielen auf fruchtbaren Boden: Schon vor Jesus hatte es viele „Gottesfürchtige“ gegeben, also Heiden, die mit den Vorstellungen des Judentums sympathisierten, aber einen vollständigen Übertritt mit allen Verpflichtungen scheuten. Durch Paulus eröffnete sich ihnen ein Weg zu dem Gott der Juden ohne allzu hohe Hürden.
Diese Öffnung für Heiden vertiefte aber den Graben zu anderen jüdischen Gruppierungen, da diese die Erleichterungen noch weniger akzeptieren konnten als die konservativen Anhänger der Jesus-Bewegung. Über kurz oder lang führte das zum Ausschluss der Jesus-Anhänger aus den Synagogen und zur Trennung zwischen dem entstehenden Christentum und dem sich ebenso jetzt erst voll ausbildenden rabbinischen Judentum.5 Dieser Abtrennungsprozess brachte Verletzungen auf beiden Seiten mit sich, auf die ein großer Teil der ntl. Polemik gegen das Judentum zurückzuführen ist – die ntl. Antijudaismen sind sozusagen die „Narben“ jener Wunden. Die Schärfe der ntl. Abgrenzung gerade gegen das pharisäische Judentum kommt dabei vermutlich auch daher, dass die Lehre Jesu in vielerlei Hinsicht jener der Pharisäer ähnelte. Wie so oft ist es gerade die große Nähe, welche die scharfe Abgrenzung verursacht.
Plenumsgespräch 2
In einer Schlussrunde sollte die bisher eher abstrakte Diskussion noch einmal mit der eigenen Glaubenswirklichkeit ins Gespräch gebracht werden unter der Leitfrage: „Welche Rolle spielt das jüdische Volk für meinen eigenen Glauben?“. Allerdings werden nur wenige Teilnehmende direkten Kontakt mit Jüdinnen und Juden haben, was die Beantwortung dieser Frage nicht leichter macht. Unterstützt werden kann das Gespräch aber durch die Einbringung der paulinischen Perspektive: Der eingangs verwendete Text Mt 27,24-25 sollte mit Röm 11,26.29 (bzw. insgesamt Röm 11) kontrastiert werden. Daran wird deutlich, wie sehr Paulus als Jude damit gerungen hat, welche Rolle sein Volk im Heilsplan Gottes hat. Er kommt schließlich zu zwei Erkenntnissen: einerseits „Ganz Israel wird gerettet werden“ (Röm 11,26) zusammen mit „Denn Gottes Gaben und Berufung [sc. Israels] können ihn nicht gereuen“ (Röm 11,29); andererseits zum Abschluss der zentralen Passage Röm 9–11 mit dem Lob Gottes: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ (Röm 11,33) – was deutlich macht, dass Paulus keine abschließende Antwort auf die ihn plagende Frage findet und es letztlich Gott anheim stellt, sie zu lösen.
1 Konkret geht es um die Rede „Die Berliner Juden und das öffentliche Leben“ anlässlich von Judenpogromen in Russland, veröffentlicht in: Adolf Stoecker, Christlich-Sozial. Reden und Aufsätze, 2. Auflage, Berlin 1890, 427-442, Zitat Seite 431. Aufgearbeitet wird das Zitat bei Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, 115-116.
2 Vgl. z. B. Martin Greschat, Art. Stoecker, Adolf, in: Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 7, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, Tübingen 2004, Sp. 1744-1745.
3 Vgl. hierzu auch die Darstellung des Verhältnisses von Jesus zu seinen „Gegnern“ bei Gerd Theissen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 4. Auflage, Göttingen 2011, S. 208-216.
4 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung bei Gerd Theissen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 4. Auflage, Göttingen 2011, S. 126-129.
5 Man geht inzwischen davon aus, dass sich nicht nur das Christentum im Gegenüber und in Abgrenzung zum Judentum entwickelt hat, sondern dass diese Konfrontation auch umgekehrt für das Judentum enorm prägend war. Erst die Abgrenzung von der schnell wachsenden Religion des Christentums machte das Judentum zu dem, was es heute ist. Vgl. dazu bspw. Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Entstehung des rabbinischen Judentums, Tria Corda 6, Tübingen 2010.
Zielgruppe: junge Erwachsene (ca. 20-40 Jahre alt) mit 6 bis 15 Teilnehmenden (ggf. auch größere Gruppen)
Alternative Zielgruppen: Frauenkreise, Männerkreise, sonstige Haus-/Bibelgesprächskreise
Einsatzgebiet: Erwachsenenbildung, Gemeindeabend
Zeitumfang: ca. 90 Minuten. Bei Durchführung des ganzen Zyklus möglichst in zeitlicher Nähe zu den anderen Gemeindeabenden (z.B. innerhalb eines Monats oder als Studientag)
Material: Handouts (Kopiervorlagen im Anhang)
Dr. Matthias Hopf ist Pfarrer und Wissenschaftlicher Assistent im Fach Altes Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.
(Stand: 2016)